„Gerechtigkeit beginnt mit Anerkennung“ – Ein Gespräch mit Professor Tessa Hofmann

Prof. Tessa Hofmann ist eine renommierte Sozialwissenschaftlerin, Publizistin und Menschenrechtsaktivistin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Armenische Studien, die Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern und die Prävention von Genoziden. Sie hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zu diesen Themen verfasst und setzt sich aktiv für die Anerkennung historischer Verbrechen und den Schutz gefährdeter Gemeinschaften ein. „Die Anerkennung des Völkermordes ist mehr als symbolische Politik. Sie ist die Wiederherstellung des Rechts auf Leben, - sagt Prof. Tessa Hofmann im Interview mit Sirarpi Movsisyan, Leiterin des Konsularlischen Büros des Honorarkonsulats der Republik Armenien.
Was hat Sie ursprünglich dazu inspiriert, Ihre akademische Forschung auf armenische Studien und die Prävention von Völkermord zu konzentrieren? Wie hat sich Ihre Perspektive im Laufe der Jahre durch Ihre Arbeit in diesem Bereich verändert?
1973 bat mich die Volkshochschule Berlin-Wilmersdorf, eine Vortragsreihe über „multinationale Sowjetliteratur“ zu halten. Ich stellte die „literarischen Regionen“ der UdSSR an zehn Abenden vor; einer davon war der sowjetarmenischen Literatur gewidmet, insbesondere Hrant Matewosjan. In der ersten Reihe des Publikums saßen zwei junge Armenier, von denen mich hinterher der eine ansprach, mir ein Lyrikbändchen von Howhannes Tumanjan („Das Taubenkloster“) schenkte und anmerkte, es reiche nicht, armenische Literatur nur anhand russischer Übersetzungen zu kennen. Gerayer Koutcharian war damals Lehrbeauftragter für Alt- und Neuarmenisch an der Freien Universität Berlin und lud mich ein, dort Armenisch zu lernen. Was ich tat. Bei meiner Beschäftigung mit der Literatur und Geschichte Armeniens stellte ich schnell fest, dass es eine unverschlossene, offene Wunde gab, die durch die Weigerung der Republik Türkei, die historischen Tatsachen anzuerkennen, aufgeklammert blieb.
Diese Wunde war der osmanische Genozid an Christen, vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Im weiteren Verlauf meiner wissenschaftlichen, publizistischen und menschenrechtlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema entdeckte ich bald, dass die Armenier das bekannteste, aber nicht einzige Opfer dieses Verbrechens waren. Insgesamt kamen an die drei Millionen Christen osmanischer und persischer Staatszugehörigkeit um. Genozid beruht auf der Aberkennung des Lebensrechts der Oper. Solange aber das Verbrechen als solches bestritten oder verharmlost wird, bleibt auch die Aberkennung erhalten. Anerkennung von Genozid ist mehr als bloße Symbolpolitik. Es ist die Wiederherstellung des Lebensrechts.
Aktuell beschäftige ich mich mit den Langzeitauswirkungen von Völkermord- und Gewalterfahrungen bzw. intergenerationalen Traumatisierungen. Insbesondere interessieren mich Aussagen von Menschen in und aus der Türkei, die armenischer Abstammung (durch mindestens einen Großelternteil) sind, aber aus Furcht vor weiterer Diskriminierung in Beruf und Gesellschaft, während des Militärdienstes usw. sich nicht zu ihrer Herkunft öffentlich zu bekennen wag(t)en bzw. sich in fremde oder hybride Identitäten flüchteten, oft in die alevitische. Mich beschäftigen ferner die psychischen Folgen wiederholter Genoziderfahrungen.
Was sind Ihrer Meinung nach die drängendsten Herausforderungen, denen sich armenische Gemeinschaften heute gegenübersehen, insbesondere angesichts der jüngsten Entwicklungen in Berg-Karabach? Wie kann die internationale Gemeinschaft effektiv auf diese Herausforderungen reagieren?
Die internationale Gemeinschaft war über die völkerrechtswidrigen Ereignisse gegen die De Facto-Republik Arzach – neunmonatige Hungerblockade, Militärangriff und Vertreibung im Jahr 2023 – bestens informiert, blieb aber untätig. In ausländischen Medien wurde mantraartig behauptet, dass Berg-Karabach völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehöre, was von Völkerrechtlern selbst durchaus bestritten wird.
Armenier:innen durchlitten mithin zweifach die Erfahrung internationaler Untätigkeit angesichts genozidaler Verbrechen gegen Armenier: im Ersten Weltkrieg und unlängst während der Blockade des Latschin-Korridors. Es fehlte freilich nicht an Abmahnungen und Entscheidungen internationaler Gerichte, aber weder der Internationale Gerichtshof, noch der Internationale Strafgerichtshof oder der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) besitzen exekutive Mittel, um ihre Entscheidungen durchzusetzen. Zu keinem Zeitpunkt wurden Wirtschaftssanktionen gegen Aserbaidschan erwogen, wie sie gegen Russland oder den Iran verhängt wurden.
Um die Rechte der aus Berg-Karabach vertriebenen Menschen – Heimat bzw. Rückkehr-recht unter den Bedingungen von Sicherheitsgarantien und Selbstbestimmung, Entschädigung für ihr zurückgelassenes oder zerstörtes Eigentum – durchzusetzen, bedarf es diplomatischer Anstrengungen sowohl der Republik Armenien, als auch der gewählten Vertreter der einstigen Republik Arzach. Leider erleben wir derzeit eher Gegenläufiges, darunter die Erwägung der armenischen Regierung, ihre Klagen gegen Aserbaidschan beim EGMR zurückzuziehen. Damit entspräche die armenische Regierung erneut einer Forderung Aserbaidschans ohne Gegenleistung.
Auch hinsichtlich der öffentlichen Unterstützung der derzeit in Baku einsitzenden sowie gerichtlich angeklagten ehemaligen Führungspersönlichkeiten der Republik Arzach fehlt – zumindest öffentlich – Unterstützung aus Jerewan. Die öffentlichen negativen Äußerungen des armenischen Regierungschefs über den Mäzen und einstigen Arzach Staatsminister Ruben Wardanjan sind ebenfalls nicht hilfreich.
Wie soll internationale Unterstützungsbereitschaft bis hin zu Sanktionen erzeugt werden, wenn selbst die Regierung Armeniens diese Unterstützung vermissen lässt?

Ihre Forschung und Ihr Engagement haben oft Aspekte des kulturellen Genozids aufgezeigt, wie etwa die Zerstörung armenischer Kulturstätten. Können Sie einige der wichtigsten Fälle, die Sie dokumentiert haben, und ihre Bedeutung für die armenische Identität erläutern?
Anders als es sich Rafael Lemkin, der Hauptautor der UN-Völkermordkonvention, gewünscht hatte, ist leider die absichtliche Zerstörung oder Vernachlässigung materiellen Kulturguts kein Bestandteil der UN-Genozidkonvention geworden. Gleichwohl wurden seit 1954 eine Reihe internationaler Abkommen zum Schutz des Kulturerbes geschlossen:
- Die Haager Konvention von 1954 soll Kulturgut bei bewaffneten Konflikten schützen. Armenien und Aserbaidschan sind Vertragspartner und haben auch das dazugehörige Protokoll unterzeichnet, soweit es für besetzte Gebiete gilt, sowie das Zweite Protokoll über den verstärkten Schutz von Kulturgut, wonach »jede Veränderung oder Änderung der Nutzung eines Kulturguts, die dazu dienen soll, kulturelle, historische oder wissenschaftliche Erkenntnisse zu verbergen oder zu zerstören«, verboten ist.
- Das UNESCO-Übereinkommen vom 16. November 1972 schützt das Kultur- und Naturerbe der Welt.
Hinzu kommen eine Reihe ergänzender Empfehlungen der UNESCO, so die Empfehlung über internationale Grundsätze für archäologische Ausgrabungen (1956), die Empfehlung von 1968 über die Erhaltung von Kulturgütern, die durch öffentliche oder private Arbeiten gefährdet sind, und die Empfehlung von 1976 über die Sicherung und zeitgemäße Nutzung historischer Gebiete.
Armenien und Aserbaidschan sind außerdem Vertragsparteien des Europäischen Kulturabkommens, des überarbeiteten Europäischen Übereinkommens zum Schutz archäologischen Erbes und des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten (1994). Der Europarat hat am 21. Juni 2021 seine Schlussfolgerungen zum Schutz des Kulturerbes in Konflikten und Krisen bekannt gegeben. Doch auch hier stoßen wir wieder auf das Problem der praktischen Durchsetzung von Beschlüssen und Konventionen, falls ein Staat zur Zerstörung des Kulturerbes einer vernichteten und/oder vertriebenen Gruppe entschlossen ist.
Das deutlichste Beispiel für den Zusammenhang von Kulturgutvernichtung und historischen Narrativen lieferte bisher Aserbaidschan in der Region Nachitschewan, wo bis 1920 eine relative armenische Bevölkerungsmehrheit von etwa 40 Prozent lebte. Zwischen 1997 und März 2006 wurden in Nachitschewan insgesamt 28.000 armenische Baudenkmäler (darunter 89 mittelalterliche Kirchen, 5.840 Kreuzsteine und 22.000 alte Grabsteine) von der aserbaidschanischen Armee mit Bulldozern zerstört. Besonders betroffen war der 1500 Jahre alte, historische armenischen Friedhof von Dschura, der jetzt der Armee Aserbaidschans als Truppenübungsplatz dient. In der einstigen armenischen Handelsstadt Agulis (jetzt Aylis) wurde 2014 eine armenische Kathedrale durch eine Moschee ersetzt, die allerdings von den muslimischen Gläubigen nicht benutzt wird, weil sie meinen, dass Gott keine Gebete aus Gebäuden erhört, die anstelle nicht-muslimischer Sakralbauten errichtet wurden.
Eine negative Rolle bei der fast flächendeckenden Zerstörung armenischen Kulturerbes in Nachitschewan dürfte die Tatsache gespielt haben, dass die aserbaidschanische Präsidentengattin Mehriban Alijewa seit 2004 von der UNESCO zur „Botschafterin des guten Willens“ ernannt wurde und diesen Titel auch nach dem Zweiten Karabachkrieg (2020) weiter-führen durfte, obwohl sie sich wiederholt für eine militärische „Lösung“ des Konflikts ausgesprochen hatte und obwohl das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit am 29.12.2025 in einem Offenen Brief die sofortige Entlassung Alijewas gefordert hatte. Alijewa war außerdem Sonderbotschafterin der UNESCO für Gesangs- und Musiktradition.
Es steht zu befürchten, dass Aserbaidschan nach der Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Berg Karabach – laut aserbaidschanischem Polit-Jargon „Besatzer“ – nun auch in dieser einstigen armenischen Region wie in Nachitschewan verfahren könnte, um materielle Zeugnisse für die einstige Existenz und kulturelle Aktivität der Vertriebenen zu tilgen. Allerdings sind heute die technischen Möglichen zur Überwachung und Dokumentation von Kulturgutzerstörungen – zum Beispiel durch Satellitenbilder – besser als noch vor zwei Jahrzehnten.
Für Armenier:innen ist das, was derzeit in Karabach geschieht, kaum zu ertragen. Denn es handelt sich auch um gezielte Demütigung durch die Entweihung von Gotteshäusern und Friedhöfen, die nicht nur zerstört und verwüstet werden. Armenische Totenschädel, von feixenden aserbaidschanischen Soldaten an die Auspuffrohre ihrer Miltärfahrzeuge gehängt, gefilmt und triumphalistisch auf „sozialen Medien“ ausgestellt, entsprechen dieser Absicht.
Wie beurteilen Sie die Rolle von Diaspora-Organisationen und Wissenschaftlern bei der Sensibilisierung für den Völkermord an den Armeniern und für aktuelle Menschenrechtsfragen in Armenien und Arzach?
Diaspora Organisationen sowie Wissenschaftler sind äußerst wichtig für die Vermittlung von Informationen und die Durchsetzung davon abgeleiteter Forderungen, sowohl bei der Aufarbeitung vergangener Verbrechen, als auch zur Prävention von Wiederholungen. Sieht man einmal von diversen Gründungsversuchen in der Vergangenheit ab, gibt es aber leider bis heute keine inter- oder transnationale Organisation (NRO), die im Namen aller Diaspora-Armenier:innen auftreten und einen Beraterstatus bei der UNO erlangen könnte, analog etwa zum World Jewish Council (Jüdischer Weltkongress), dem Palestinian National Council, dem World Council of Arameans (Syriacs) oder der International Romani Union.
Vor dem Hintergrund Ihrer Expertise im Bereich der Erinnerungskultur: Wie sehen Sie die Rolle der deutsch-armenischen Gemeinschaft bei der Gestaltung der Erinnerung an den Völkermord in Deutschland? Worin unterscheidet sich ihr Beitrag zur öffentlichen Erinnerung von dem der Armenier in anderen Teilen Europas?
Die armenische „Gemeinschaft“ in Deutschland ist gering an Zahl und zudem hinsichtlich der Prägungen in ihren Herkunftsländern – Türkei, Iran, Armenien bzw. postsowjetischer Raum – sehr unterschiedlich. Im Unterschied zu anderen Herkunftsgemeinschaften - etwa der türkeistämmiger Menschen – ist sie in der deutschen Dominanzgesellschaft und ihren Einrichtungen, namentlich in Gewerkschaften, politischen Parteien und anderen Interessen-verbänden kaum vertreten bzw. sichtbar. Das unterscheidet sie vor allem von Frankreich, das seit der Zeit des armenisch-kilikischen Königreichs eine enge Verbindung zu Armeniern aufweist und wo heute die größte armenische Gemeinschaft Europas lebt, mit etwa 600.000 Angehörigen; in Deutschland dagegen beläuft sich die geschätzte Anzahl der Armenier auf nur ein Zehntel.
Der Zentralrat der Armenier in Deutschland hat mich 1999 gebeten, eine Initiative zur „Anerkennung“ bzw. Verurteilung des Genozids an den Armeniern im Deutschen Bundestag zu starten. Es dauerte dann noch 17 Jahre, bis die deutschen Gesetzgeber in einer zweiten „Anerkennungs“ Resolution die „Vertreibungen und Massaker“ der Jahre 1915 und 1916 als Genozid entsprechend der UN-Konvention qualifizierten. Dazu beigetragen haben eine Reihe nichtarmenischer Organisationen, darunter auch solche türkeistämmiger Menschen bzw. Türken (z.B. die leider verstorbenen Ali Ertem und Doğan Akhanlı, der Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir) und türkeistämmige Kurden. In Deutschland lebt die weltweit größte Diasporagemeinschaft türkeistämmiger Menschen. Solidarität erfahren Armenier sowie ihre erinnerungs- und geschichtspolitischen Anliegen auch von der alevitischen Gemeinschaft, vor allem der Aleviten aus Dersim, wo zahlreiche Menschen nicht nur armenischer Abstammung (mit zumindest einem Großelternteil) sind, sondern dem Raa Haq-Glauben angehören, einer Untergruppe des Alevitismus mit Wurzeln im Zoroastrismus, Manichäismus und Naturreligionen. Die Region Dersim hat gleich zweifach Genozid erlitten: 1915/16 im Zuge des jungtürkischen Völkermords an den osmanischen Armeniern sowie 1937/38 durch das Militär der Republik Türkiye. Opfer wurden damals alevitische Kurden sowie alevitisierte Armenier, also Nachfahren des ersten Genozids.
Ebenso wichtig ist die Unterstützung durch Verbände und Vereine der Gemeinschaften der christlichen Mitopfer: Griech:innen kleinasiatischer Herkunft, vor allem Pontos-griech:innen, Aramäer:innen/Assyrer:innen/Chaldäer:innen. Aus dieser ökumenischen Bewegung entstand auch die bisher einzige gemeinsame Gedenkstätte, errichtet in Berlin-Charlottenburg durch die Fördergemeinschaft für eine Ökumenische Gedenkstätte von Genozidopfern im Osmanischen Reich (FÖGG) e.V. und mit Unterstützung des Berliner Landesamts für Denkmalschutz. „Opfersolidarität statt Rivalität“ lautet das Motto dieser Handlungsweise.